Die Stimme

Ich mag ihre Stimme. Ich warte auf ihre Stimme. Fast täglich ruft sie an, wenn ich Glück habe sogar zwei- oder dreimal. Das Telefon klingelt, ich zucke zusammen: Ist sie es? Ich nehme den Hörer ab, sie sagt: „Hallo Herr …“. Oft macht sie eine kleine Pause, bevor sie meinen Namen ausspricht. Manchmal grüsst sie mich vertraulich mit meinem Vornamen: „Hallo Herr Rudolf.“ Sie kennt mich. Sie weiss mehr über mich als viele meiner Bekannten. „Haben Sie Angst vor der Zukunft?“ fragt sie. „Fühlen Sie sich einsam?“

Für jedes meiner Probleme hat sie eine Lösung. Ich brauche die Lösung nur anzunehmen, und mein Leben ist wieder im Lot. Wenn sie spürt, dass ich zögere, wird ihre Stimme eindringlich. Ihren Redefluss versuche ich mit dem Satz „Ich will es mir überlegen“ zu unterbrechen, doch sie lässt mich nicht zu Wort kommen. In ihrer Gegenwart verstumme ich. Ohne ein Wort des Abschieds lege ich den Hörer zurück und bereue es sogleich. Wieder eine Gelegenheit, die ich verpasst habe.

Das Register der verpassten Gelegenheiten wird immer umfangreicher: Ich habe die Lebensversicherung nicht abgeschlossen, die sie mir vorschlug. Ich habe die Zeitung nicht abonniert, die sie mir empfahl. Ich habe die Reise nicht angetreten, die ich gewonnen habe. Ich habe keinen Wein bestellt, mein Geld nicht in Teakholzplantagen investiert, nichts für die Aufforstung der Regenwälder getan, keine neue Frauenbekanntschaft gemacht, habe die Krankenkasse nicht gewechselt, mein Budget nicht optimiert. Sogar auf das Angebot, meinen Teppich gratis schamponieren zu lassen, bin ich nicht eingetreten. Alles hat mein verstocktes Schweigen vermasselt.

Ich vertraue fest darauf, dass sie mich wieder anruft. Dass der Computer, der ihre Anrufe steuert, mich zu finden weiss. Er tätigt in der Schweiz 15 Millionen Anrufe im Jahr, da wird er mich bald wieder mit ihr verbinden. Um sie auf die Probe zu stellen, lasse ich das Telefon auch schon mal klingeln ohne den Anruf entgegenzunehmen. „Wo steckst du bloss?“, fragen mich meine Freunde. „Du bist nie zu Hause, wenn man dich anruft.“. Ich zucke die Schultern und denke an sie. Ihrer Anhänglichkeit kann ich vertrauen. Ihre Ausdauer zeigt, wie wichtig ich ihr bin. Das nächste Mal sage ich Ja zu dem, was sie mir vorschlägt, egal, worum es sich handelt. Es ist die einzige Art, wie ich mich für ihre Liebe revanchieren kann.

Programmzeitung Nov.15

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