Das lange Etwas, das vor mir auf dem Gehsteig liegt – ein verbogenes Metallteil?, ein Stück Holz? – ist nichts anderes als mein linker Arm. Ich bin gestolpert, vor mir erhob sich auf einmal eine Wand, die rasch näher kam, die sich rasend schnell unter mich schob wie ein Laufband, mit dem ich Schritt zu halten versuchte. Dann schlug ich an ihr auf.
Ich will diesen Arm nicht. Es ist nicht der meine. Sowas von leblos. Als ich mich erhebe, kommt er mit, schlafft an meiner Schulter herunter, ein überflüssiges Ding aus Schmerz, dass ich nicht loswerde. Ich nehme es vorsichtig in den rechten Arm, trage es durch die Stadt wie einen Schosshund, den ich vor Zusammenstössen mit Passanten schützen muss.
Der Krankenhauscomputer erkennt mich sogleich wieder. Er wedelt zur Begrüssung ein paar Daten hervor. Noch immer der alte?, fragt er mit der sanften Stimme der Empfangsdame. Wie meinen Sie das?, frage ich irritiert, das ist doch, bitte, kein Persönlichkeitstest. Ich spüre, wie die gesunde Schulter, die noch immer das Hündchen wiegt, sich versteift. Höre, wie die Frage wiederholt wird. Nicke knapp. Ja, noch immer der alte Wohnort.
Vielleicht ist es doch ein Persönlichkeitstest.
Die Röntgenschwester verschwindet nach den Aufnahmen, die ihr Gerät von meiner Schulter gemacht hat, in ihrem Kabäuschen. Dort sieht sie sich die Bilder an. Ich höre, wie sie leise durch die Zähne pfeift. Wow! Sowas hat sie noch nie gesehen. Ein derart zerlegter Knochen! Als sie herauskommt, höre ich wieder das leise Pfeifen. Es gilt nicht meinen Bildern. Es stammt nicht von ihr. Es liegt kein Erstaunen darin. In rhythmischer Gleichgültigkeit sondert der Ventilator den Pfeifton ab, bläst ihn in die Stille des Röntgenraums.
Nach der Operation, befinde ich mich, halb schlafend, in einem wunderbar heilen Zustand, einem Schweben zwischen Himmel und Erde. Alles bleibt fern, nicht verdrängt und nicht vergessen, vielmehr aufgehoben in einer Sphäre aus Licht. Nichts kann mir jetzt passieren. Die Schmerzmittel nehmen den Schmerz, und das Bewusstsein, gut aufgehoben zu sein, nimmt die Zweifel. Warum nicht in diesem Paradies bleiben? Wie lässt sich die Schwerelosigkeit halten?
In den Glücksmoment hinein tritt der operierende Arzt. Er nimmt seinen Motorradhelm unter dem Arm hervor und legt ihn auf mein Bett. Über meine Verletzung spricht er seltsam unbeholfen, in einer Art Motorfahrerslang. Er, dessen Hand in unerhörter Feinheit in meinen Organismus eingegriffen hat, findet kaum Worte dafür, was geschehen ist. Wenn Sie die Bewegung, die ich Ihnen da zeige, weiterhin üben, sind wir schon verdammt weit, sagt er. Meine Fragen beantwortet er nicht, macht bloss eine Armbewegung, als ob er sie unter seinen Motorradhelm wische. Er ist nicht in Redestimmung. Wenden Sie sich ans Personal, sagt er. Man merkt es den fahrigen Bewegungen seiner Hände an, dass er jetzt das Gas aufdrehen möchte. Er überlässt mich mit einem gnädigen Kopfnicken mir selber, nimmt den Helm und geht.
Nachts liege ich stundenlang wach und höre dem Schnarchen des Zimmernachbarn zu, einem halblauten Ziehen, Schleifen, Röcheln, das einen bestimmten Rhythmus aufweist, einen nicht ganz regelmäßigen Rhythmus, den ich mit den Fingern mitzuklopfen suche, was mir aber nicht gelingt. Ich suche Wörter für dieses Geräusch, das nicht unangenehm ist, mich vom Schlafen aber abhält. Ich finde keine Worte. Es gibt kein Mittel der Übersetzung in eine artikulierte Sprache. Das Hörstück wird komponiert und ausgeführt im selben Moment, ungeplant, absichtslos, für kein Publikum erfunden. Ich freue mich an der Uraufführung und geniesse sie, bis mich der Schlaf übermannt.
Ich träume von einer weichen Pflanze, die mich mit ihren gefiederten Blättern umwuchert, als befände ich mich im Urwald. Mehrmals hintereinander träume ich von ihrem satten Grün. Wache ich auf, hüllt mich ein intensiver Geruch ein. So riecht sie also, denke ich. Grüne Pflanze, gefiederte Blätter, starker Geruch, das geht so bis zum Morgen
Einige Tage später, ich komme von der Physiotherapie zurück, rieche ich an der schmalen Ranke einer Pflanze, die aus einem Gartenzaun ragt. Bleibe überrascht stehen. Die Pflanze hat genau den Geruch, von dem mein Traumzwischenreich im Spital erfüllt war. Er stammt, wie meine App weiss, von der Silber-Perowskie, einer Verwandten der Salbei. Möglicherweise kam diese in einem meiner Medikamente vor, wird der Silberstrauch doch unter anderem zu Heilzwecken verwendet. Der Nachtgeruch droht mich in die Hilflosigkeit des Frischoperierten zurückzuholen, die Pflegefachfrau misst den Puls, auf der Bettdecke liegt der Motorradhelm des Arztes. Rasch weitergehen.
C. und ich vereinbaren am Telefon, dem Rhein entlang zu gehen und uns in eine Buvette zu setzen. Wie weit soll der Spaziergang werden? Ich kann, sage ich, gehen bis zum letzten Café. Er ist begeistert. Ja, bis zum letzten Café, diesem schönen Gedichttitel entlang wollen wir gehen.
Der ganze Alltag dreht sich um die gebrochene Schulter, und ich mache es mir zur Gewohnheit, meine Aufmerksamkeit diesem Drehen zu schenken, den Arm aber zu vergessen. Zu beobachten, wie der ganze Körper sich um die eigene Achse windet, bis der ausgerollte Gartenschlauch richtig in der einen Hand liegt. Die Gänge zu zählen hin und zurück zum Küchenschrank beim Versorgen des Geschirrs. Den Verrenkungen der Finger beim Stopfen der Pfeife zuzusehen. Mit zu summen bei den Genesungstänzen, geführt von der Musik der Langsamkeit.