Wahrheitsvermeidung

Angenommen, Sie haben Steuern hinterzogen. Kann ja vorkommen. Angenommen, Sie haben es wiederholt getan. Sagen wir: schon immer. Nun aber ist Ihnen die Steuerbehörde auf die Schliche gekommen. Sie erhalten von ihr einen eingeschriebenen Brief. Sie wagen ihn nicht zu öffnen, gehen damit direkt zum Anwalt. Was soll ich tun?, fragen Sie den Anwalt. Er öffnet den Brief.

„Sehr geehrter Herr B., wir haben bei Ihnen eine Tendenz zu Steuervermeidung festgestellt, Ihre Steuererklärung weist eine Fehlerquote von 100 Prozent auf. Ihr Risikoappetit in Sachen Steuerminimierung ist eindeutig zu hoch. Wir erinnern an Ihre Selbstverantwortung beim Ausfüllen der Steuererklärung. Mit vorzüglicher Hochachtung.“

Sie schauen den Anwalt fragend an. Dieser gibt ihnen das Papier zurück. Ein milder Tadel, sagt er. Füllen Sie die nächste Steuererklärung aus wie gewohnt, und wenn wieder ein Brief eintrifft, schmeissen Sie ihn einfach weg.

Natürlich, Sie haben keine Steuern hinterzogen und keinen solchen Brief gekriegt. Der Brief, den Sie bekämen, sähe eine saftige Busse und die Nachzahlung der fälligen Steuern bis auf den letzten Rappen vor. Sollte Ihnen das Schreiben dennoch bekannt vorkommen: Es ist ganz im Ton gehalten, in dem die Finma unlängst über ein Verfahren gegen Schweizer Banken orientiert hat, die in zwei  Korruptionsskandale verwickelt sind (und wo Geldflüsse von mehreren Milliarden US-Dollars im Spiel sind). Im Ton auch, in dem viele Medien im Zusammenhang mit den Panama-Papers über Gewinnverschiebungen und Steuertricks von Unternehmen berichtet haben (den EU-Staaten entgehen jedes Jahr zwischen 50 und 70 Milliarden Euro an Steuergeldern). Auffallend, mit welch zurückhaltenden Begriffen dem Thema zu Leibe gerückt wurde und wird – als handle es sich um kleine Versehen. Die Sprache verrät es: Wir bewegen uns im Bereich einer hochgradigen gesellschaftlichen Tabuisierung. Im Bereich einer semantischen Wahrheitsvermeidung, wo Weichspülerausdrücke das Ziel der notwendigen Aufklärung mit einer Fehlerquote von 100 Prozent verfehlen.

Dank dem Einsatz von Hunderten von Journalisten haben die Panama Papers eine bedeutende Blase platzen lassen. Der Risikoappetit, den sie dabei entwickelten, müsste dringend auch auf andere Kommunikatoren überspringen.

 

Programmzeitung Febr. 2016

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