Fast alle Bilder, die in Wohnzimmern hängen, haben dasselbe Schicksal. Sie werden mit der Zeit übersehen, niemand beachtet sie mehr. Nicht dieses Bild hier. Je länger man sich in der Wohnung aufhält, desto spannender wird es. Es ist der Stadtplan von Paris. Er misst 130 auf 100 cm und bedeckt einen grossen Teil der Längswand. Fünf Reissnägel halten ihn fest. Der Blick fällt nicht zufällig auf ihn: Man sucht ihn. Man befragt ihn.
Jemand hat an dem Ort, wo die Wohnung liegt, einen grossen roten Pfeil befestigt. Mit den Augen wandert man von ihm bis zum Ort, an den man gehen will. Man legt den Finger auf das Papier, das sich an einigen Stellen etwas baucht, tippt auf Les Halles, berührt den Canal Saint Martin. Man verweilt bei den Parks, dem Bois de Boulogne. Man schätzt die Distanz zur Cartoucherie, man kalkuliert im Kopf die Zeit für die Hinfahrt, man lässt die Idee, ins Théâtre du Soleil zu gehen, fallen. Man steht vor dem Plan und berät sich. Man streitet sich: Wohnt der Bekannte in der Cité Internationale Universitaire oder in der Cité Internationale des Arts? Heisst jene Strasse rue Coulincourt oder rue de Clignancourt?
Der Plan hing nicht immer hier, es gibt Gebrauchsspuren, die darauf hindeuten, dass er verschiedentlich entfaltet wurde. Seit er hier hängt, haben verschiedene Benutzer versucht, ihn an der Wand zu befestigen. An den abstehenden Rändern weisen Reste von durchsichtigem Klebeband auf die Vergeblichkeit dieser Versuche hin. Auch die Reissnägel sind mit Klebeband verstärkt, der Plan droht an den Ecken zu reissen. Eigentlich müsste er in einem Rahmen stecken, der seiner Bedeutung entspräche. Auf die Idee, ihn einzurahmen, ist noch niemand gekommen. Wenn schon, sind es Gemälde, die in einen Rahmen kommen, so wie Kunstfotografien unter Glas kommen. Sie werden geschützt und veredelt. Den Stadtplan zu schützen, fällt niemandem ein. Der Atem fährt über ihn hin, die Hand betatscht ihn, die Finger lassen ihre Ausdünstung auf ihm liegen. Er wird veredelt durch den Gebrauch.