Beim Lesen eines Buches bemerke ich aus dem Augenwinkel einen Schatten, der oben auf dem Einband hin und her geht. Eine Ameise läuft von einem Ende des Kartons zum andren, bis ihre Vorderbeine ins Leere greifen, macht kehrt und läuft über den Grat des Buchdeckels zum andren Ende zurück. Dann beginnt sie den Buchrücken zu erkunden. Sie verlangsamt ihren Gang, entziffert Autor und Titel, und offenbar ist sie jetzt überzeugt, dass es genau das Buch ist, das sie lesen will, denn sie hastet über die Titelseite nach vorn zum Seitenschnitt. Vermutlich ist sie unschlüssig, wo sie in den Text einsteigen soll, geht sie doch mehrmals auf und ab, bevor sie zwischen zwei der leicht aufgeblätterten Seiten verschwindet. Ich suche sie, doch sie ist wohl unten aus dem Buch gefallen, trunken vom Lesen oder weil sie auf eine andere Seite wechseln wollte. Eine Lese-, eine Bildungsameise. Eine Autodidaktin, die zu ihrem Volk zurückkehren wird, um ihr Wissen weiterzugeben. Am Abend sehe ich sie, etwa in der Mitte des Buches, zerquetscht zwischen den Worten „lächelnd“ und „beinahe“ liegen. Irgendwie finde ich es tröstlich, dass der Tod die Ameise mitten im Lesen ereilt hat. Sie ist ihrem Entdeckertrieb zum Opfer gefallen ist – jenem Trieb, der sie wie kein anderer zur Verwandten des homo sapiens gemacht hat.