Georges Perecs letzte Wohnung

„Welches sind die Sehenswürdigkeiten des Quartiers?“, schreibt Georges Perec in Espèces d’Espaces. „Das Wohnhaus von Salomon Bernard? Die Kirche Sankt Thomas von Aquin? Die Nr. 5 der rue Sébastien-Bottin?“

Mich nimmt wunder, was sich hinter der geheimnisvollen Anspielung auf diese Strasse versteckt. Vielleicht ein Haus, in dem Perec vorübergehend gewohnt hat? Zu dem er eine spezielle Beziehung hatte? Ich beschliesse hinzugehen.

Dass die Strasse kurz ist, habe ich auf dem Stadtplan gesehen. Dass sie derart kurz ist, überrascht mich. Von der rue du Bac herkommend, bin ich auf das Haus Nummer 9 gestossen, mit dem die rue Sébastien-Bottin gleich auch aufhört. Anschliessend an das Haus zieht sich eine Mauer quer über die Strasse und schliesst diese ab. Ich wende mich um und gehe in die andere Richtung. Dort, wo ich die Nummern 7 erwarte, hängt aber das Schild einer anderen Strasse. Die niederen Nummern gehören dieser Strasse an, die einen anderen Namen trägt. Träume ich? Ist es möglich, dass die rue Sébastien-Bottin tatsächlich aus bloss einem einzigen Haus besteht, einem Haus, das die Nummer 9 trägt?

Ich denke an Georges Perecs Vorliebe für Mathematik und Zahlen. Er hat lange Zeit Kreuzworträtsel für die Wochenzeitschrift Le Point erstellt. Ich denke an seine Neigung für das Absurde. Was wundere ich mich? Die Situation ist ganz in seinem Sinn.

Ich frage einen Mann, der gerade das Haus verlässt, wo die Nummer 5 sei. Er schaut um sich, scheint überrascht. Schliesslich sagt er: „Wo es eine Neun gibt, gibt es auch eine Fünf“, und steigt in seinen Wagen.

Ich beziehe vor dem Haus Position und stelle nach einigem Warten meine Frage der jungen Frau, die aus dem Eingang tritt. Nein, keine Ahnung. Wen ich denn suche? Ich sage, in der Nummer 5 habe Georges Perec gewohnt, und auf ihren fragenden Blick hin: ein berühmter Schriftsteller. – „Dann fragen Sie einige Häuser weiter unten“, rät sie. „Dort ist der Verlag Gallimard zu Hause, vielleicht kann man Ihnen weiterhelfen.“

Der Eingang des Verlags hat zwei Klingelknöpfe, auf jeder Seite einen. Ich drückte den einen, dann den anderen, der sich auf einem Schild aus sauber poliertem Messing befindet. Nach einer Weile öffnete mir eine junge Frau mit fliegenden Haaren die Tür und geht mir voran eine kurze Treppe hoch. Sie tritt hinter die Empfangstheke, setzt sich und sieht mich misstrauisch an. Ich frage sie, ob sie wisse, wo Georges Perec gewohnt habe. – „Wer?“ – „Perec. Ein Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts.“ – Den kenne sie nicht. – „Ich suche das Haus, das er in einem seiner Bücher erwähnt“, sage ich und füge Strassennamen und Hausnummer an. – „Über Autoren geben wir generell keine Auskunft“, sagt sie und tippt etwas in den Computer. – „Es geht um nichts Persönliches, bloss um die Aussenansicht eines Hauses“, beharre ich. Der betreffende Autor sei übrigens nicht mehr am Leben. Sie bleibt ungerührt und wendet sich definitiv ihrer Arbeit zu. Für sie ist das Thema erledigt, die Audienz ist zu Ende. Im Weitergehen bereue ich einen Moment, sie nicht darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass der Autor für ihren Verlag kein Unbekannter sei. Nur, was hätte ich damit erreicht?

Eine rätselhafte Strasse, dem nur ein einziges Haus zugehört, die Nummer 9: Was hat es damit auf sich? Die Nummer 5, die stillschweigend von einer Strasse in die andere gewandert ist: Was steckt dahinter?

Der Sachverhalt ist so kompliziert wie amüsant. Die Strasse hiess, laut Wikipedia, nach mehreren Namenswechseln seit 1929 rue Sébastien-Bottin. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde ins Auge gefasst, sie nach dem Gründer des Verlags rue Gaston-Gallimard zu nennen. Die Einwohner des Hauses Nummer 9 wehrten sich jedoch gegen die Umbenennung ihrer Strasse. Man respektierte ihren Willen. Sie behielten die Adresse rue Sébastien-Bottin, während der Rest der Strasse seitdem als rue Gaston-Gallimard existiert. Es gibt, auch in dieser Strasse, nur eine Adresse: Die Nummer 5, Verlag Gallimard.

Welches sind die Sehenswürdigkeiten des Quartiers?, fragt Georges Perec in seinem Buch. Er leistete sich den Scherz, als eine der möglichen Antworten, sozusagen als Geheimtipp, den Sitz des Verlags Gallimard aufzuführen. Er konnte nicht ahnen, dass das Verlagshaus, das sein Gesamtwerk in die „Bibliothèque de la Pléjade“ aufnahm, zu seiner letzten literarischen Heimstatt werden würde.